31. Oktober 2012

Berlin, Brandenburger Tor

Touristen tragen ihre Kameras durch die Gedenkstätten. In Erinnerung an die Genozide. In Erinnerung an die Erinnerung der Genozide. Denn als sie stattfanden, nahm sie niemand war. Es bilden hier eine Linie: Holocaust-Denkmal, Brandenburger Tor, Denkmal für die Sinti und Roma, Bundestag. Dem deutschen Volke. Sechsunddreissig Mannschaftswagen. Funkwagen und Kameras mit Beobachtungsstationen. Darüber ein Polizeihubschrauber, der knatternd Linien zieht. Vor dem Bundestag ein fetter Fahnenmast und oben das Stück Stoff, welches aus 82 Millionen Menschen eine Einheit macht. Eine greifbare Einheit, die angreifen kann. Die Treppe zu den Säulen von zwei Gitterreihen abgesperrt. Dicke Mauern, hinter denen die Genozide vor siebzig Jahren ausgedacht wurden. Heute trifft sich Angela Merkel mit Tayyip Erdogan. Sie sprechen nicht über Genozide. Und auch nicht über gefangene Journalisten, Politiker und Aktivisten. Sie sprechen nicht über die islamistischen Freischärler, welche in der Türkei ausgebildet und mit Waffen versorgt werden, um in Syrien einen fremden Krieg unter den immer gleichen falschen Vorwänden auszutragen. Sie sprechen über den Schulterschluss der beiden farbigen Stoffstücke, der beiden Einheiten aus 82 und 65 Millionen Menschen, als deren oberste Köpfe sie sich sehen, der beiden Einheiten, die angreifen. Vor dem Brandenburger Tor stehen Menschen und rufen dagegen. Gegen die Einheiten und deren Angriffe. Sie erzählen von Gefolterten und Ermordeten, Gefangenen und Hungerstreikenden, von Kriegstreiberei und Diskriminierung. Am Ende singen sie Bella Ciao mit türkischem Text und mir legt sich Wasser auf die Augen. Sechsunddreissig Mannschaftswagen, Absperrgitter, Funkwagen und Kameras mit Beobachtungsstationen. Männer mit Uniformen und Gewehren im Gurt, mit denen sie schiessen können. Und darüber ein Polizeihubschrauber, der langsam über den Platz fliegt. Die Sonne scheint und es ist sieben Grad kalt. Touristen spazieren zwischen den Betonblöcken des Holocaust-Denkmals und lassen sich fotografieren. Kinder hüpfen darüber und werden von einem Aufseher auf den Boden gepfiffen. Auf der anderen Seite des Brandenburger Tors haben Flüchtlinge ein Camp aus Regenschirmen errichtet, um gegen ihre prekären Lebensbedingungen und Abschiebungen zu protestieren. In der eisig kalten Nacht hat ihnen die Polizei die Decken und Schlafsäcke weggerissen.