23. Dezember 2012

Während die Welt schlief

Ich habe das Buch zu Ende gelesen, das mich auf meiner bisherigen Reise begleitet hat. Neben mir sitzt ein älterer Mann mit weisser Tagia, brauner Djallaba und der gleichen Uhr, die ich diesen Sommer in Mersin gekauft hatte, nachdem mein Handy ins Meer gefallen ist. Das Handy, welches einst Zineb gehörte, als ich ihr vor vier Jahren zum ersten Mal eine SMS geschrieben habe: Bin in Casablanca angekommen, wenn du willst, können wir uns morgen Nachmittag sehen. 23. Dezember 2008. Nachdem ich fünf Stunden auf den orangen Sitzpolstern eines Marokkanischen Zuges von Tanger nach Casablanca gefahren bin
und durch die Fenster auf die wintergrüne Landschaft voller Menschen geschaut habe, voller Esel und Schafe, Kühe, Kinder, farbige Frauenkleider, pflügenden Ochsen, Olivenbäume, Eukalyptusplantagen und Häuser, die immer mehr wurden, bis sie allen Raum eingenommen hatten und der Zug anhielt. Casablanca, sagte der protzige Junge mit amerikanischem Akzent, der neben mir sass; Ain Saba, sagte die junge Frau in der kleinen Bahnhofshalle; siebzig Dirham sagte der Taxifahrer, der mir Fotos von ihm als jung am Strand in Italien zeigte und Cat Steevens im Radio laufen liess: How can I try, to explain...

Das Handy war in das Meer gefallen, welches seine gutmütigen Wellen hundert Kilometer weiter östlich über die syrische Küste schwappen lässt, welches die Schiffe trägt, die Waffen liefern, welches mir die Entfernung zu den Gräueln eines perfiden Krieges schenkt. Mit dreckigen Vorwänden als Köder fischen sie sich eine Welt, die skandiert und applaudiert, schweigt, weint, sich unterhaltet und um nichts schert. Syrien, dessen Grenze ich am 6. März 2011 bei Kilis Richtung Norden überschritten hatte, und das ich nie mehr als gleiches betreten werde.

Ich hole meinen Pass und eine Packung Mandeln aus meinem Rucksack, die ich vor zwei Monaten in einem Schweizer Supermarkt gestohlen hatte. Ich biete sie dem Mann neben mir an, der den Kopf schüttelt, allahaftak, Gott beschütze dich, und sich selber mit dicken Händen welche aus der Tasche seiner weiten, filzigen Djallaba holt. Ich blättere in dem roten Büchlein und entziffere die Stempel der Grenzen auf der Suche nach einem Zusammenhang der Geschichten. Mir gegenüber sitzt ein junger Mann, der aus einer Dose Cola schlürft, mit seinem Kaugummi schmatzt, Rapmusik hört und dabei mitsingt, was sich bescheuert anhört. Ich erinnere mich an den Geschmack von Energydrink mit Alkohol, irgendwo in den syrischen Bergen in einem Christendorf, bei den Freunden eines Jungen, den ich am Busbahnhof in Jableh kennengelernt hatte.

Ich habe das Buch zu Ende gelesen, welches meine bisherige Reise begleitet hat. Ich spüre die Tränen, die auf meine Augen drücken und sehne mich nach einer Welt, in der man weinen kann. Oder nach dem Mut dazu. Ich stakse zwischen den vierzehn Knien hindurch aus dem Zugabteil und dränge mich an den stehenden Menschen im Gang vorbei zur Toilette. Vor dem Spiegel wische ich mir das Blut vom Hals, das nach dem Rasieren heute Morgen meine Haut befleckte. Mein Gesicht ist ausdruckslos. Ich weine nicht. Der Zug ist voller Menschen. Sonntagnachmittag von Marrakech nach Rabat, durch karge Hügel der Abendkühle entgegen, heute ist mein Bruder nachhause geflogen. 23. Dezember, vier Jahre nachdem ich angekommen bin um mein Leben auf den Kopf zu stellen. How can I try to explain... Das Leben tanzt mit mir Tango, ich lasse mich führen, fliegen, fallen und fangen. Auf dass die Nacht kein Ende nimmt.

Der Zug ist voller Menschen. In den Abteilen, auf den Gängen, in den Gepäckräumen. Der Junge mir gegenüber macht nun Blasen mit seinem Kaugummi, die er dann wieder in den Mund saugt um weiter zu schmatzen, und seine Nervosität löst in mir eine latente Aggression aus. Ich fühle mich gefangen in zu vielen Menschen, im pausenlosen Wahrnehmen ihrer Ablenkungsmanöver.

Ich habe das Buch fertig gelesen. Und frage mich nach der Bedeutung meines Lebens in den Kontrasten dieser Welt. Wie bedeutungslos bin ich dem Morden gegenüber. Ich wollte weinen, doch mein Gesicht konnte sich nicht bewegen und die Gedanken hinter meinen Augen schweiften ab, suchten nach Ablenkung in den Bildern, die sie so einfach erklären konnten, und liessen die Tränen austrocknen, bevor sie geflossen sind.

Während die Welt schlief (Mornings in Jenin, Les Matins de Jénine), ein sehr bewegendes Bild, das nie vergessen werden darf, begraben in den Trümmern unter der Tanzfläche, die man darüber genagelt hat, um sich die Wertfreiheit unserer Strukturen zu vergeben.