11. Januar 2013

Frieden

Ich stehe auf der Terrasse und beobachte den Morgen. Es ist ein ruhiger Freitag, der Tag des manifeste de l'independence, ein Feiertag. Die Sonne wärmt die Stadt nach einer kühlen Nacht und ich höre viele Vögel zwitschern. Aus der Ferne das Hupen von Autos und Verkehrsrauschen, einen kreischenden Winkelschleifer, Hämmern, Koran-Rezitationen aus den Fernsehern und klingelnde Telefone. Vor mir ein Meer aus hellgrauen Satellitenschüsseln mit Rostflecken, die meisten Richtung Nilesat, den ägyptischen Fernsehsateliten. Sie stehen auf den verschachtelten Flachdächern und ragen über die Mauern, von denen manche weiss, manche ockerfarben gestrichen sind, wobei die Farbe bereits fleckenweise abgeglättert ist und der saure Regen dunkelgraue Striemen hinterlassen hat, und manche auch bloss in rohem Zementgrau unter dem matten Himmel stehen. Die Schüsseln erinnern mich an die kleinen Muscheln, welche am Strand an den Felsen kleben, und welche wie eine spröde Kruste abbröckeln, wenn man darüber reibt. Nebenan ragen die beiden Twin Towers in die Höhe wie zwei Ausserirdische, die sich verirrt hatten und beschämt stehen blieben, weil sie nicht alles klein trampeln wollten und weil alle sie anstarrten. Auf der Terrasse gegenüber spielt ein kleiner Junge Krieg mit einem Maschinengewehr aus Plastik. Er schiesst auf die Tauben und gibt Zeichen an seine unsichtbaren Kameraden. Als er mich sieht, versteckt er sich hinter der Satellitenschüssel. Ich sehe, wie der Lauf seines Gewehrs langsam hervorlugt. Zwischen Satellitenschüssel und Blumentopf mit Küchenkräutern. Er zielt auf mich. Wie er abdrückt knackt das Gewehr und ich zucke zusammen. Er spielt bloss.