18. Januar 2013

Krieg

Das neue Jahr hat eben erst begonnen und die Welt hat einen neuen Krieg. In Mali, 2000 Kilometer südlich von hier, am anderen Ende der Wüste, beobachten die Medien einen weiteren Kampf zwischen Gut und Böse. Eine weitere Inszenierung des globalen Monopolys um Machtkarten in den Armenvierteln dieser Welt, unter deren Elend die Schätze vergraben sind, welche die industriell technologische Zivilisation am Laufen halten. Die Fossilien aus längst vergangenen Zeiten, welche ausgegraben werden um die glorreichen Maschinen anzutreiben, um die prunkvolle internationale Hochkultur aus Wohlstand, Angst, Zerstörung und Sorglosigkeit über den Abgrund der Welt hinaus zu bauen.

Syriens Bürgerkrieg voller Folterer, Heckenschützen Bomben und Massaker schlachtet derweil zielstrebig seinem zweijährigen Bestehen entgegen. Die UNO zählt 60'000 Kriegstote und 500'000 Flüchtlinge. Im Irak zünden sich die Autobomben wie ein endloses Domino, zehn Jahre nach dem Beginn eines Krieges mit mindestens 80'000 toten Zivilisten und 4 Millionen Flüchtlinge. In Afghanistan kämpfen unbemannte Superdrohnen gegen kriegsgegerbte Taliban während das Land apathisch in sein fünfunddreissigstes Kriegsjahr trottet. Randnotizen aus den Schlachtfeldern, welche an den Schauplätzen der letzten zehn Jahre von der Inszenierung dieses dreckigen Spiels übrig geblieben sind. Gebannt beobachtet die Welt eine neue Szene.

Am 11. Januar haben Frankreich und die „internationale Gemeinschaft“ begonnen, Städte im Norden Malis zu bombardieren. Die fanatischen Kämpfer eines wütenden Gottes hatten sie eingenommen und mit Säbel und Peitsche ihre strengen Sitten eingeführt, um ihrem allmächtigen Schöpfer und seinem Propheten zu dienen. Die Kämpfer haben viele Waffen, welche ihnen Frankreich und die „internationale Gemeinschaft“ vor zwei Jahren nach Libyen geschickt hat, damit sie Mouammar Al Gaddhafi vom Thron warfen. Jetzt will man sie aus Mali vertreiben und hat die Opération Serval gestartet, benannt nach einer kleinen ockerfarbenen Wildkatze mit schwarzen Punkten, welche sich im Süden Malis herumtollt, Eidechsen, Mäuse, Schlangen und Vögel frisst. Aljazeera.com schreibt vom „Beginn einer langwierigen französischen Militärintervention“. Auf Wikipedia.org werden alle Flugzeuge, Helikopter Panzer, Kriegsschiffe, Satelliten, Bodentruppen und Spezialeinheiten beschrieben. Sie kämpfen für die Menschenrechte. Sie kämpfen um die Macht ihrer Spielpartner. Sie kämpfen gegen die Soldaten des wütenden Gottes. Aber auf der anderen Seite des Mittelmeers steht die „internationale Gemeinschaft“ den Soldaten des wütenden Gottes gerade mit viel Geld, Waffen und medialem Rückhalt zur Seite, um Baschar Al Assad zu stürzen.

Man weiss, dass niemand für die Menschenrechte Krieg führt. Man weiss, dass Bomben nicht Teufel beseitigen sondern Häuser niederreissen und Menschen töten. Man weiss, dass andere mit der Geschichte vom wütenden Gott Paläste bauen. Man weiss, dass Kriege Elend und Zerstörung hinterlassen, egal unter welchem Vorwand sie geführt werden. Und dennoch beginnt jede Vorführung mit demselben furchteinflössenden Tosen und denselben engelshaften Kampfansagen und endet mit den Berichten von denselben Gräuel.

Ich sauge das Internet aus in der Hoffnung, eine Erklärung dafür zu finden. Ich lese den ganzen Wikipedia-Artikel über die Opération Serval. Er beschreibt das eingesetzte Kriegsmaterial und die Chronik der Entscheidungen der Beteiligten Parteien. Tote werden noch keine erwähnt. Ganz zu unterst steht ein kleiner Abschnitt mit dem Titel Folgen. Ein Hinweis auf das Schlachtfeld, welches der Krieg am Schauplatz hinterlassen wird. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge teilt am 15. Januar mit, dass knapp 150'000 Menschen aus den Kriegsgebieten ins Ausland geflohen sind und 230'000 weitere Menschen ihre Wohnorte verlassen haben. Für deren Versorgung mit Lebensmitteln würden laut UNO-Welternährungsprogramm 129 Millionen US-Dollar benötigt. 15. Januar 2013. Wir befinden uns gerade am Anfang eines neuen Krieges. Der Zynismus, den ich mir angeeignet habe, um die Welt auszuhalten, lässt mich lachen. Bis das Lachen zu einem Weinen wird, das mich überkommt, ohne dass ich es verstehe, ein Heulen wie ein kleines Kind, welches in meine Heiterkeit dieser Tage einbricht.

Fünfhunderttausend Menschen auf der Flucht. Und was ist mit all den Subsahariern, welche gerade unterwegs in ihr neues Leben sind? Welche jetzt wie Kevin in Mali ankommen und überrascht feststellen, dass es in der Wüste keine Strassen gibt? Welchen wie Benoît das Geld ausgeht, weil sie mittellos aufgebrochen sind um ihre Angehörigen zu suchen, die ein anderer längst vergessener Krieg vertrieben hat? Welche festsitzen und Arbeit suchen um sich durchzuschlagen? Was passiert mit ihnen mitten im Krieg? Und wer wird die fünfhunderttausend neuen Reisegeschichten erzählen, welche dieser Krieg ausgelöst hat? Wird jemand ihre Namen nennen und die Chronik ihrer Entscheidungen auf Wikipedia veröffentlichen? Wird man ihnen die Grenzen öffnen, damit sie in den Ländern der Kriegsgewinnler Schutz und Zuflucht finden? In den Ländern der selbstlosen Sponsoren und tapferen Kämpfern eines Krieges für Friede, Freiheit und Menschenrecht?

Allahuakbar, hallen die Rufe in meinem Kopf, wenn Gott doch nur grösser wäre als all das. Wenn es doch tatsächlich diesen allmächtigen Geist gäbe, der die menschlichen Zivilisationen seit Jahrtausenden im Bann seiner Vorstellung hält. Der die Geplagten hoffen und die Plagenden glauben lässt. In dessen Namen sie Kriege führen und Frauen peitschen, Kinder tadeln und Lieder singen, Kerzen anzünden und das Herz weit und frei der Welt entgegen öffnen. Wenn es doch tatsächlich diesen Gott des Friedens gäbe. Assalaamualaikum. Wenn es doch tatsächlich diesen Gott der Liebe gäbe. Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Wenn es doch nur diesen Gott gäbe, der grösser als alles ist. Allahuakbar. Der die Welt erschaffen und über sie wacht wie ein gütiger Vater. Bis zum letzten Tag.