10. Februar 2013

Hoffnung unterm Sternenzelt

Tanger an einem frühen Morgen Anfang Februar. Auf dem Place de la France stehen alte Männer neben den alten Kannonen aus schwerem Eisen und blicken schweigend über das tiefblaue Meer. Sie blicken auf die Hügel der anderen Seite, die so nahe sind, dass man in der Nacht die Scheinwerfer der Autos sieht, die dort durch die Gegend fahren. So nahe und doch für sie so unerreichbar. Fähren pendeln zwischen den beiden Kontinenten, sie transportieren Lastwagen mit Handelswahren, europäische Reisende und jene Marokkaner, welche das Privileg haben, die nötigen Eitrittspapiere in die Welt der Kolonialisten und ihrer Wohlstandspartner zu besitzen. Auf einem Mäuerchen sitzt ein Schwarzafrikaner und studiert gedankenversunken einen Stapel mit den Resultaten von Pferderennen. Er sucht das richtige Ross für seinen Wetteinsatz, der ihm einen weiteren Versuch finanzieren soll, um in der Nacht die Meeresenge zu überqueren. Er harrt den ganzen Morgen versunken in die vielen Nummern und setzt sich von Zeit zu Zeit wieder aus dem Schatten der Häuser, wenn die Sonne weiterzieht.

Unten am Meer sticht die aufgehende Sonne in den feinen Nebel über dem Wasser und bringt die weissen Schaumrollen zum leuchten, welche die dunklen Wellen vor sich hinschieben. Ich betrachte sie und finde, sie sehen wirklich aus wie galoppierende Schimmel, wie die chevaux de l'étroit auf den Postkarten in den Souveniershops. Das Meer liegt in einem satten Türkisblau zwischen Afrika und Europa und es scheint, als könnte man ohne weiteres bis zum Mittag auf die andere Seite laufen, wenn man darauf nur gehen könnte. Ein Mann sucht in den furchigen Felsen am Strand nach Tintenfischen, welche die Ebbe liegengelassen hat. Daneben hievt ein Kran riesige Tetrablöcke ins Wasser um die Mole des neuen port de pêche zu bauen, die dereinst die Schiffe vor den Wellen schützen wird. Entlang der Küste fangen dutzende kleine Boote die Fische ab, welche zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik pendeln. Es gibt Leute, die sagen, man solle hier keine Raubfische essen, da sie sich diese von den Leichen ernähren.

Ein kalter Wind von Norden begleitet die Szene. Das Bild lässt keinen erahnen, was diese Meeresenge alles für Geschichten zu erzählen hat. Sie sieht aus wie so jedes Meer, ein Ort auf dieser Erde, der ohne die Idee der Menschen, sie mit Grenzen zu zerstückeln, gerade so schön wäre wie jeder andere Ort auf ihr: streichelndes Wasser, geduldige Felsen, grüne Hügel, blauer Himmel, Möven, Dunst und Weite, beleuchtet von dem warmen Licht der Sonne.

Dort drüben ist Europa: Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt! Brüder - überm Sternenzelt, muss ein lieber Vater wohnen.