9. November 2012

Feierabendzug

Während einer kleinen Reise durch die Schweiz begegne ich drei Menschen, die mir ihre Realität offenbaren, deren Existenz ich gerne vergessen hätte.

Eine grosse Frau mitte Dreissig steigt mit ihren beiden Kindern ins Tram und setzt sich neben mich. Sie hat ein ausgeprägt nervös-dominantes Verhalten mit scheinheiliger Freundlichkeit. Die jüngere Tochter sitzt ihr auf dem Schoss, der ältere Sohn auf dem Sitz gegenüber. Sie hat den Jungen gerade von der Schule abgeholt. Der Junge trinkt aus einem kleinen Fläschchen Limonade. Folgende Unterhaltung spielt sich in einer freundlich maskierten Stimmung ab: Warum hast du denn immer Durst? Du musst halt eine Flasche von zuhause mitnehmen. – Ja weißt du, ich kann halt nach der Schule nie etwas auf dem WC trinken gehen, weil du immer schon da stehst. – Eben, nimmst du dieses Fläschchen mit, mach’s jetzt nicht kaputt, gell. – Die ist klein. – Du brauchst nicht mehr, sonst musst du nur ständig pinkeln, das ist auch nicht gut. – (Der Junge saugt die Flasche aus) – Wie war dein Diktat? – Gut. – Hast du Fernseher richtig geschrieben? – Jaja – Hä, hast du Fernseher richtig geschrieben? - (Der Junge schweigt) – Und Fussball? Sag, hast du Fussball richtig geschrieben? – Jaa – Hast du alles richtig geschrieben? He? Sag? Was hat die Lehrerin gesagt? War’s gut? – Ja – Hä was hat sie gesagt? – Sechsplus – (Die Mutter lächelt stolz) – Fünfplus – Hast du gut gemacht – Dreiplus – Was? Eine Drei? – Dreiplus – He nein, eine Drei ist ungenügend, das ist gar nicht gut – Dreiplus – Das ist gar nicht gut, das ist ungenügend, alles unter Vier ist ungenügend – Dreiplus – He, stimmt das oder erzählst du mir irgendeinen Mist? Sag? Was hat die Lehrerin gesagt. – Mama, ich hab dir doch gesagt, es gibt keine Note! – Ja, aber was hat sie gesagt, die Lehrerin, hat sie gesagt, dass es gut war, oder dass du dir mehr Mühe geben musst – Gut. – Hat sie gesagt, dass es gut war? – (Die kleine Schwester kommt dazwischen) Mama, du hast da Schokolade! – Ach was, ich habe heute gar keine Schokolade gegessen. – Doch, da, schau – Unsinn. Dein Bruder ist ein Habasch – Arschloch – Nein, nicht Arschloch, ein Habasch.

Ein Mann und eine Frau sitzen neben mir im überfüllten Freitagabendzug von Basel Richtung Provinz. Sie tragen staubige Arbeitskleider und trinken Bier. Ihre Gesichter sind eingefallen und lassen erahnen, dass sie sich bereits viele Sorgen mit Alkohol vom Leib gewaschen haben. Sie: Weisst du, ich habe das Problem nicht, ich arbeite nur noch alleine – Er: Ist besser so – Ja, ich habe denen gesagt, ich kann nicht mit diesen Sozialfällen zusammen, die halten mich nur von der Arbeit ab. – Und dann musst du noch ihre Arbeit machen – Ja eben, die machen es dann nur so halbherzig und dann muss ich überall nachputzen – Ich arbeite jetzt mit einem zusammen, der ist so ein fauler Siech, da muss ich dann doppelt so viel arbeiten. – Eben. Aber heute musste ich trotzdem in die Innenabteilung, weil die anderen alle krank spielen! – Krank spielen? – Ja sicher. – Schon, wobei, es geht schon eine Grippe rum, da must du aufpassen. – Na und? Ich bin auch mit Schnupfen und Fieber arbeiten gegangen! – Stimmt schon. – He, ich gehe auch arbeiten wenn ich krank bin! Ich hab mich doch nicht dafür, einfach zuhause zu bleiben. – Ja, meine Frau sagte auch immer, bleib doch zuhause, du bist doch krank, aber ich habe mich da nicht dafür. – Du, ich bin letztes Jahr mit einer Lungenentzündung noch arbeiten gegangen! Da hatte ich vierzig Grad Fieber. – Vierzig Grad? – Ja natürlich, ich hatte eine Lungenentzündung. Die Ärztin hat gesagt, sie liefere mich ins Spital ein, wenn ich nicht verspreche, dass ich sofort nach Hause gehe. Da war die ganze Lunge schon voll Eiter. Nach vier Tagen haben die’s gemerkt, da habe ich angefangen zu schwanken. – Das geht manchmal lange, bis die was merken.

Zwei Arbeiter um die Fünzig sitzen sich gegenüber im Zug. Der eine trägt einen graumeliertem Rossschwanz und Arbeitskleider eines Industriebetriebs. Der andere kurze Haare mit Gel, Jeans und Kittel. Ich setze mich daneben und ernte misstrauische Blicke. Regionalbahn nach Menziken, tief ins Aargauer Hinterland. Der Wagen ist voller schweigender Menschen, bis auf die beiden. – Die wollen ja alle nur den Pass, sagen sie, aber was willst du mit dem Pass? Wenn der kein Deutsch kann, wird der auch mit Pass keine Arbeit finden. – Bei uns ist einer, der ist jetzt dreissig Jahre hier, der kann kein Deutsch, sag ich dir, kein Wort, nur Brocken, dreissig Jahre, verdammtnochmal. – Ich sage dir, mit der Schweiz ist es vorbei. – Natürlich, das geht nicht mehr lange. – Irgendwann macht es Bumm, aber das werde ich nicht mehr erleben. – Doch doch! – Glaubst du? – Täusche dich nicht, das geht schneller als du denkst. Es ist ja kein Geld mehr da, überall fehlt es an Geld, das geht nicht mehr lange. – Und dann werfen sie denen noch alles hinterher, all diese Integrationskurse, die ja sowieso nichts bringen. – Und wer zahlt das? Wir Schweizer Steuerzahler müssen dann alles berappen, nur um gut dazustehen in der Welt! – Die lachen doch nur über uns. So wie hier kriegst du nirgendwo alles nachgeworfen. Das kann uns doch scheissegal sein, wie uns die Welt sieht! – Als ich das letzte Mal auf dem Sozialamt war wegen der IV-Rente, da war da einer, der hat gestürmt, er brauche dreitausend Franken, für irgend ein Zeugs, ich sage dir, der ist einfach mit dem Scheck rausgelaufen! – Die sind unverschämt! – Und wir, weißt du, wir Schweizer betteln für vierhundert Franken und liefern eine detaillierte Begründung für jedes Detail! – Da hatte Blocher eben recht. – Ich war ja kein Blocher-Fan. – Ich auch nicht. – Aber das was er sagte, das hatte Hand und Fuss. – Deshalb haben sie ihn ja abgesägt. – Natürlich! Ich sage dir, darum gehe ich nicht mehr wählen. Die führen alles ins Verderben! – Weißt du, die Ausländer müsste man einfach in ihren Heimatländern in die Kisten stecken – Und dann ohne Fernseher. – Aber nein, man gibt überall nach. – Man muss die Menschenrechte abschaffen. Für Ausländer gibt es keine Menschenrechte. Die sollten so behandelt werden wie dort, wo sie herkommen. Diebstahl, Hand abhacken; Ehebruch, steinigen; sonst lernen die das nie – Genau. Aber mit der Schweiz ist es zu Ende. – Irgendwann macht es Bumm. – Natürlich, da habe ich keine Zweifel, dann wird dann einer kommen wie der (deutet einen Hitlerschnauz und lacht) – Ja, da werden die noch staunen. (Der Zug hält in Unterkulm) – Also, gutes Wochenende! – Ja, dir auch, tschau.