1. November 2012

Kreisende Tauben - Erinnerungen an Aleppo



Der Grenzbeamte schaute nur mit einem Auge in die Welt, als er unsere Pässe draussen auf der Strasse entgegen nahm. Er gab uns die Stempel der Arabischen Republik Syrien für einen Monat Aufenthaltserlaubnis, was uns alles Geld kostete, das wir auf uns trugen. Dreiundsechzig Dollar und zehn türkische Lira für den einäugigen Beamten. Das andere Auge hielt er in der hellen Mittagssonne zugekniffen. Zwischen den unverputzten grauen Zementsteinmauern des unscheinbaren Grenzdörfchens blieben zerzauste Kinder breitbeinig stehen, lachten und riefen uns zu.
Wir liefen auf einer schmalen Strasse in das flache Land hinein, vorbei an winterkargen Feldern und weissen Pistazienbäumen. Ein Türke brachte uns bis ins nächste Dorf und zwei syrische Grenzbeamten setzten uns später in einem Aussenquartier von Aleppo an einem Kreisel ab.

Zwei Jahre alte Erinnerungsbilder einer Stadt, die heute vom Krieg zerrissen und zertrümmert wird. Schwarze Fahnen wehen über den Kontrollposten der Jihadisten. Granaten der Armee schlagen in die Häuser. Die Videos im Internet zeigen, wie Menschen aus den hohen Häusern dem blutrünstigen Mob vor die Füsse geworfen werden. Zu den Foltergefängnissen des Regimes haben sich die Schariagerichte der Jihadisten gesellt.

Wir fragen einen Jungen vor einer Bäckerei nach dem Weg zur nächsten Bank. Seine Blicke kleben an mir wie die rosengewürzte Melasse in den Süssgebäcken, die er verkauft. Die Bank ist weit weg in einer undefinierbaren Richtung. Der Junge weicht lange nicht mehr von unserer Seite, bis er sich überschwänglich verabschiedet, mit dem entzückten Lachen, das er seit unserer Begegnung auf seinem Gesicht trug.

Eine Stadt in Schwarz-Weiss-Beige. Der Boden ist staubbedeckt und in der Luft hängt der Rauch von Mazout-Öfen, runde Eisenöfen, die in den Wohnzimmern stehen und Tröpfchen um Tröpfchen Diesel verbrennen. Menschen drängen sich um die Subventionierten Bäckereien und tragen Stapel mit aufgeblähten Fladenbroten davon.

Jeden Morgen stehen die Taubenhalter auf ihren Flachdächern und lassen die Tauben Kreise fliegen. Sie schwingen dabei mit einem Seil in der Luft, an dessen Ende ein schwerer Knoten und ein flatternder Plastiksack befestigt ist, pfeifen zwischen den Zähnen und lassen die Tauben mit Schreien die Richtung wechseln oder andere Formen fliegen. Ich stehe auf dem Dach der Herberge und beobachte die aufgehende Sonne über den Steinhäusern der Altstadt. Die Tauben ziehen immer grössere Kreise, fliegen Formen zwischen den Türmen, setzen sich wieder auf die Dächer und Gurren eine Weile, bevor sie wieder aufgescheucht werden.

Unsere Herberge liegt hinter dem Uhrturm. Dort haben sie drei Jahre zuvor sieben Menschen gehängt. Die waren von der Mafia, sagt Adel. Was immer das heisst. Daneben bauen sie die grösste Moschee der Stadt. Die sechs Gebetstürme ragen bereits in den matten Winterhimmel.

Wir essen frisch frittierte Falafel-Sandwich in den langen Gängen des grossen Marktes. Zum Frühstück Foul, gekochte Saubohnen mit viel Olivenöl und einer weissen Sauce, dazu Fladenbrot und grüne Paprika. Ich betrete sämtliche Papierläden auf der Suche nach einem unlinierten Schreibheft und versuche den Verkäufern mit allen möglichen Zeichen meinen Wunsch klarzumachen. In einem der zahllosen Schmuckläden im grossen Markt handle ich mir eine schöne Kette mit blaumelierten Steinkügelchen auf 800 Pfund herab. Ich habe aber nur 400 bei mir und der eifrige Händler gibt mir die Kette auf mein Versprechen, ihm gleich das restliche Geld zu bringen. Ich laufe mit der Kette zu Adel und frage nach seiner Meinung. Die Steinkügelchen schmelzen über der hellblauen Flamme seines neuen Feuerzeugs, worauf ich die Kette dem alten Händler bringe, der mir das Geld zurückgibt aber darauf beharrt, dass es kein Plastik sei.

Durch die Strassen fahren schwarze Leichenwagen mit goldenen Kreuzen, arabisch geschriebenen Gebeten und weissen Schleifen, begleitet von arabischer Kirchenmusik aus krächzenden Lautsprechern. Eine christliche Beerdigung. Über den Dächern rufen die Muezzine zum Gebet. Im christlichen Viertel singen jene, die es sich leisten können, am Donnerstag Karaoke, trinken Whisky und Gin, essen Meeresfrüchte und rauchen Wasserpfeife. Sie singen Habibi Ya Nour El Ain und All My Loving, lachen und betrinken sich. Dicke geschminkte Frauen mit tiefen Ausschnitten legen sich ihren Männern schmachtend in die Arme.

An der Stadtmauer vor dem Markt tragen zwei Männer eine alte Frau im Stuhl an die Sonne. Auf einem Friedhof unter dem Kurdischen Viertel spielen zwei Kinder sitzend mit Steinchen, während die Sonne durch den Dunst steigt und mich das Taxi anhupt, das mich wegbringt. Die sonnseitigen Fassaden der Häuserreihen sind mit trocknender Wäsche bedeckt. Auf dem Burghügel gegenüber weht eine riesige schwarz-weiss-rote Fahne träge im Wind. Über dem Friedhof kreisen Tauben, ihr Meister hat sie ausfliegen geschickt und ruft ihnen spitze Schreie zu.

Wir fahren zum Bahnhof aus der Kolonialzeit und scheitern an einer langen Schlange vor dem Schalter, an dem sich jeder Reisende registrieren muss, bevor er ein Billet kaufen kann: Name, Name des Vaters, Name der Mutter, Geburtsort, Geburtsdatum, Identitätsnummer und Reiseziel. Der heutige Zug nach Damaskus fährt inzwischen davon und wir ziehen weiter zum Busbahnhof.

Ich erinnere mich an die Alltage in Aleppo wie an einen fernen Traum, umhüllt von weissem Dunst, beschienen von einer warmen matten Wintersonne. Ich erinnere mich an viele hupende Taxis, lebendige Strassen, den menschenüberfüllten Markt. An die Olivenölseife aus den städtischen Seifensiedereien, die aussieht wie alter Parmesankäse, an die Schuhmacher vor dem Tor, an betörenden Gewürzgeruch und chinesischen Plastikramsch. Ich erinnere mich an unglaublich freundliche und hilfsbereite Menschen. Ich erinnere mich an die Tauben über dem Dunst und die Ruhe in der Nacht.