Tanger. Vom Hotel aus sehe ich den geschlossenen Coiffeur-Laden, in dem ich vor anderthalb Jahren zum letzten Mal meine Haare kurz schneiden liess. Auf der Fähre, die uns nach Afrika bringt, treffen wir Hamad, ein freundlicher Marokkanischer Auswanderer, der in Portugal den Krise-geplagten Bauunternehmen ihre Bagger abkauft und hier her verfrachtet. Als wir mit dem Bus in Tanger Ville ankommen, hält er uns die aggressiven Taxifahrer vom Hals und führt uns in ein günstiges Restaurant um unsere hungrigen Mägen mit gutem Essen zu füllen. Ein sehr guter Mensch mit Elfenohren.
Wir sind zusammen mit zwei deutschen Jungs, die nach Ghana trampen.
Am Hafen die alten Bettler und Strassenkinder. Kinder, die trotz der nackten Füsse und zerschlissenen Kleider im Dezemberregen lächeln, nachdem sie einen Schluck aus meiner Flasche getrunken haben. Kinder, die trotz der ganzen Misere herzlich sind. Für sie bin ich etwas, das ich nicht sein will, etwas, wofür ich mich schäme, es zu sein. Ich bin einer von oben, einer von den Gewinnern in einem dreckigen Spiel mit mafiösen Regeln.
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Ich sitze auf einem Felsvorsprung mit Blick auf Chefchaouen, die blaue Touristenstadt, und lausche dem Rauschen des klaren Bergbachs, dem Schreien der Kinder, dem Rufen junger Männer beim Fussballspiel auf dem Platz vor der Stadt, den kreischenden Hähnen und Eselsschreien, die der Wind nach oben zu den Winterwolken trägt, welche eine hartnäckige Sonne zu zerstreuen versucht. Marokko ist ein Land voller Menschen; auf den Strassen, auf den Feldern und Hügeln, am Meer, in den Bussen und Häusern. Ein Land voller Kontraste und Möglichkeiten, voller Herzenswärme und frustriertem Hass, tiefer Ehrlichkeit und scheinheiliger Lüge. Ein Land voller Menschenleben in all seinen Formen.