Ich habe das Buch zu Ende gelesen, das
mich auf meiner bisherigen Reise begleitet hat. Neben mir sitzt ein
älterer Mann mit weisser Tagia, brauner Djallaba und der gleichen
Uhr, die ich diesen Sommer in Mersin gekauft hatte, nachdem mein
Handy ins Meer gefallen ist. Das Handy, welches einst Zineb gehörte,
als ich ihr vor vier Jahren zum ersten Mal eine SMS geschrieben habe:
Bin in Casablanca angekommen, wenn du willst, können wir uns morgen
Nachmittag sehen. 23. Dezember 2008. Nachdem ich fünf Stunden auf
den orangen Sitzpolstern eines Marokkanischen Zuges von Tanger nach
Casablanca gefahren bin
und durch die Fenster auf die wintergrüne
Landschaft voller Menschen geschaut habe, voller Esel und Schafe,
Kühe, Kinder, farbige Frauenkleider, pflügenden Ochsen,
Olivenbäume, Eukalyptusplantagen und Häuser, die immer mehr wurden,
bis sie allen Raum eingenommen hatten und der Zug anhielt.
Casablanca, sagte der protzige Junge mit amerikanischem Akzent, der
neben mir sass; Ain Saba, sagte die junge Frau in der kleinen
Bahnhofshalle; siebzig Dirham sagte der Taxifahrer, der mir Fotos von
ihm als jung am Strand in Italien zeigte und Cat Steevens im Radio
laufen liess: How can I try, to explain...
Das Handy war in das Meer gefallen,
welches seine gutmütigen Wellen hundert Kilometer weiter östlich
über die syrische Küste schwappen lässt, welches die Schiffe
trägt, die Waffen liefern, welches mir die Entfernung zu den Gräueln
eines perfiden Krieges schenkt. Mit dreckigen Vorwänden als Köder
fischen sie sich eine Welt, die skandiert und applaudiert, schweigt,
weint, sich unterhaltet und um nichts schert. Syrien, dessen Grenze
ich am 6. März 2011 bei Kilis Richtung Norden überschritten hatte,
und das ich nie mehr als gleiches betreten werde.
Ich hole meinen Pass und eine Packung
Mandeln aus meinem Rucksack, die ich vor zwei Monaten in einem
Schweizer Supermarkt gestohlen hatte. Ich biete sie dem Mann neben
mir an, der den Kopf schüttelt, allahaftak, Gott beschütze dich,
und sich selber mit dicken Händen welche aus der Tasche seiner
weiten, filzigen Djallaba holt. Ich blättere in dem roten Büchlein
und entziffere die Stempel der Grenzen auf der Suche nach einem
Zusammenhang der Geschichten. Mir gegenüber sitzt ein junger Mann,
der aus einer Dose Cola schlürft, mit seinem Kaugummi schmatzt,
Rapmusik hört und dabei mitsingt, was sich bescheuert anhört. Ich
erinnere mich an den Geschmack von Energydrink mit Alkohol, irgendwo
in den syrischen Bergen in einem Christendorf, bei den Freunden eines
Jungen, den ich am Busbahnhof in Jableh kennengelernt hatte.
Ich habe das Buch zu Ende gelesen,
welches meine bisherige Reise begleitet hat. Ich spüre die Tränen,
die auf meine Augen drücken und sehne mich nach einer Welt, in der
man weinen kann. Oder nach dem Mut dazu. Ich stakse zwischen den
vierzehn Knien hindurch aus dem Zugabteil und dränge mich an den
stehenden Menschen im Gang vorbei zur Toilette. Vor dem Spiegel
wische ich mir das Blut vom Hals, das nach dem Rasieren heute Morgen
meine Haut befleckte. Mein Gesicht ist ausdruckslos. Ich weine nicht.
Der Zug ist voller Menschen. Sonntagnachmittag von Marrakech nach
Rabat, durch karge Hügel der Abendkühle entgegen, heute ist mein
Bruder nachhause geflogen. 23. Dezember, vier Jahre nachdem ich
angekommen bin um mein Leben auf den Kopf zu stellen. How can I try
to explain... Das Leben tanzt mit mir Tango, ich lasse mich führen,
fliegen, fallen und fangen. Auf dass die Nacht kein Ende nimmt.
Der Zug ist voller Menschen. In den
Abteilen, auf den Gängen, in den Gepäckräumen. Der Junge mir
gegenüber macht nun Blasen mit seinem Kaugummi, die er dann wieder
in den Mund saugt um weiter zu schmatzen, und seine Nervosität löst
in mir eine latente Aggression aus. Ich fühle mich gefangen in zu
vielen Menschen, im pausenlosen Wahrnehmen ihrer Ablenkungsmanöver.
Ich habe das Buch fertig gelesen. Und
frage mich nach der Bedeutung meines Lebens in den Kontrasten dieser
Welt. Wie bedeutungslos bin ich dem Morden gegenüber. Ich wollte
weinen, doch mein Gesicht konnte sich nicht bewegen und die Gedanken
hinter meinen Augen schweiften ab, suchten nach Ablenkung in den
Bildern, die sie so einfach erklären konnten, und liessen die Tränen
austrocknen, bevor sie geflossen sind.
Während die Welt schlief (Mornings in
Jenin, Les Matins de Jénine), ein sehr bewegendes Bild, das nie
vergessen werden darf, begraben in den Trümmern unter der
Tanzfläche, die man darüber genagelt hat, um sich die Wertfreiheit
unserer Strukturen zu vergeben.